Ernst Jünger:
Zitate über die Zeit
(seite 2)
Ernst Jünger war deutscher Schriftsteller und Publizist.
Entdecken Sie interessante Zitate über zeit.
Ernst Jünger:
558
Zitate
111
Gefällt mir
„Nun leben wir in Zeiten, in denen täglich unerhörte Arten des Zwanges, der Sklaverei, der Ausrottung auftreten können — sei es, daß sie sich gegen bestimmte Schichten richten oder über weite Landstriche ausdehnen. Dagegen ist der Widerstand legal, als die Behauptung der menschlichen Grundrechte, die von Verfassungen im besten Falle garantiert werden, doch die der Einzelne zu vollstrecken hat. Hierfür gibt es wirksame Formen, und der Bedrohte muß auf sie vorbereitet, er muß in ihnen geschult werden; ja es verbirgt sich hier das Hauptfach einer neuen Erziehung überhaupt. Es ist schon ungemein wichtig, den Bedrohten an den Gedanken zu gewöhnen, daß Widerstand überhaupt möglich ist — ist das begriffen, dann wird mit einer winzigen Minderheit die Erlegung des gewaltigen, doch plumpen Kolosses möglich sein. Auch das ist ein Bild, das immer in der Geschichte wiederkehrt und in dem sie ihre mythischen Grundfesten gewinnt. Darauf erheben sich dann Gebäude für lange Zeit.“
„Wir leben in Zeiten, in denen Krieg und Frieden schwer zu unterscheiden sind. Die Grenzen zwischen Dienst und Verbrechen sind durch Schattierungen verwischt. Das täuscht selbst scharfe Augen, denn in jeden Einzelfall fließt ja die Zeitverwirrung, die Allgemeinschuld ein. Erschwerend wirkt ferner, daß Fürsten fehlen und daß die Mächtigen alle über die Stufen der Parteiung aufgestiegen sind. Das mindert vom Ursprung an die Begabung für Akte, die sich auf das Ganze richten, also für Friedensschlüsse, Urteile, Feste, Spendungen und Mehrungen. Die Kräfte wollen vielmehr vom Ganzen leben; sie sind unfähig, es zu erhalten und zu mehren durch inneren Überfluß: durch Sein. So kommt es zum Verschleiß des Kapitals durch siegreiche Fraktionen, für Tageseinsichten und -absichten, wie das bereits der alte Marwitz befürchtete.“
„Der Techniker rechnet mit einzelnen Vorteilen. In der großen Buchführung sieht das oft anders aus. Liegt in der Welt der Versicherungen, der Impfungen, der peinlichen Hygiene, des hohen Durchschnittsalters ein wirklicher Gewinn? Es lohnt sich nicht, darüber zu streiten, weil sie sich weiter ausbilden wird und weil sich die Ideen, auf denen sie beruht, noch nicht erschöpft haben. Das Schiff wird seine Fahrt fortsetzen, auch über die Katastrophen hinweg. Die Katastrophen bringen freilich gewaltige Ausmerzungen. Wenn ein Schiff untergeht, versinkt auch die Apotheke mit. Es kommt da auf andere Dinge an, wie etwa darauf, daß man einige Stunden im Eiswasser übersteht. Die vielfach geimpfte, keimfreie, an Medikamente gewöhnte Besatzung von hohem Durchschnittsalter hat da geringere Aussicht als jene andere, die das alles nicht kennt. Eine minimale Sterblichkeit in ruhigen Zeiten gibt keinen Maßstab für die wahre Gesundheit; sie kann über Nacht in ihr Gegenteil umschlagen. Es ist sogar möglich, daß sie noch unbekannte Seuchen erzeugt. Das Gewebe der Völker wird anfällig.“
„Was soll es nun dem Heutigen bedeuten, wenn er sich durch das Vorbild der Todesbezwinger, der Götter, Helden und Weisen leiten läßt? Es heißt, daß er sich am Widerstande gegen die Zeit beteiligt, und nicht nur gegen diese, sondern jede Zeit überhaupt, und deren Grundmacht ist die Furcht. Jegliche Furcht, wie abgeleitet sie auch erscheine, ist im Kerne Todesfurcht. Wenn es dem Menschen gelingt, hier Raum zu schaffen, so wird sich diese Freiheit auch auf jedem anderen Felde geltend machen, das die Furcht regiert. Dann wird er die Riesen fällen, deren Rüstung der Schrecken ist. Auch das hat sich in der Geschichte stets wiederholt.“
„Unter den Menschen ist Sokrates zu nennen, dessen Vorbild nicht nur die Stoa, sondern kühne Geister zu allen Zeiten befruchtete. Wir mögen über Leben und Lehre dieses Mannes verschiedener Ansicht sein; sein Tod zählt zu den größten Ereignissen. Die Welt ist so beschaffen, daß immer wieder das Vorurteil, die Leidenschaften Blut fordern werden, und man muß wissen, daß sich das niemals ändern wird. Wohl wechseln die Argumente, doch ewig unterhält die Dummheit ihr Tribunal. Man wird hinausgeführt, weil man die Götter verachtete, dann weil man ein Dogma nicht anerkannte, dann wieder, weil man gegen eine Theorie verstieß. Es gibt kein großes Wort und keinen edlen Gedanken, in dessen Namen nicht schon Blut vergossen worden ist. Sokratisch ist das Wissen von der Ungültigkeit des Urteils, und zwar von der Ungültigkeit in einem erhabeneren Sinne, als menschliches Für und Wider ihn ermitteln kann. Das wahre Urteil ist von Anbeginn gesprochen: es ist auf die Erhöhung des Opfers angelegt. Wenn daher moderne Griechen eine Revision des Spruches anstreben, so wären damit nur die unnützen Randbemerkungen zur Weltgeschichte um eine weitere vermehrt, und das in einer Zeit, in der unschuldiges Blut in Strömen fließt. Dieser Prozeß ist ewig, und die Banausen, die in ihm als Richter saßen, trifft man auch heute an jeder Straßenecke, in jedem Parlament. Daß man das ändern könne: dieser Gedanke zeichnete von jeher die flachen Köpfe aus. Menschliche Größe muß immer wieder erkämpft werden. Sie siegt, indem sie den Angriff des Gemeinen in der eigenen Brust bezwingt. Hier ruht die wahre historische Substanz, in der Begegnung des Menschen mit sich selbst, das heißt: mit seiner göttlichen Macht. Das muß man wissen, wenn man Geschichte lehren will. Sokrates nannte diesen tiefsten Ort, an dem ihn eine Stimme, schon nicht mehr in Worten faßbar, beriet und lenkte, sein Daimonion. Man könnte ihn auch den Wald nennen.“
„Damit kehren wir zum Thema zurück. Menschliche Furcht zu allen Zeiten, in allen Räumen, in jedem Herzen ist ein und dieselbe, ist Furcht vor der Vernichtung, ist Todesfurcht. Das hören wir bereits von Gilgamesch, wir hören es im 90. Psalm, und dabei ist es geblieben bis in unsere, heutige Zeit. Die Überwindung der Todesfurcht ist also zugleich die Überwindung jedes anderen Schreckens; sie alle haben nur Bedeutung hinsichtlich dieser Grundfrage. Der Waldgang ist daher in erster Linie Todesgang. Er führt hart an den Tod heran - ja, wenn es sein muß, durch ihn hindurch. Der Wald als Lebenshort erschließt sich in seiner überwirklichen Fülle, wenn die Überschreitung der Linie gelungen ist. Hier ruht der Überfluß der Welt.“
„Bedeutend ist nun an unserem Zustand, daß wir nicht völlig im Dumpfen dahinleben. Wir steigen nicht nur zu Punkten großen Selbstbewußtseins auf, sondern auch zu strenger Selbstkritik. Das ist ein Zeichen hoher Kulturen; sie wölbenBögen über die Traumwelt auf. Wir kommen im Bewußtseinsstil zu Einsichten, wie sie dem indischen Bilde vom Schleier der Maja entsprechen oder der ewigen Weltzeitfolge, die Zarathustra lehrt. Die indische Weisheit rechnet selbst den Aufstieg und das Versinken von Götterreichen der Welt des Augentruges zu - dem Schaum der Zeit. Wenn Zimmer behauptet, daß uns diese Größe des Aspektes fehle, so kann man ihm darin nicht beistimmen. Nur fassen wir ihn im Bewußtseinsstil, durch den alles zermalmenden Vorgang der Erkenntniskritik. Hier schimmern die Grenzen von Zeit und Raum. Der gleiche Vorgang, vielleicht noch dichter und folgenschwerer, wiederholt sich heute in der Wendung von der Erkenntnis auf das Sein. Dazu kommt der Triumph der zyklischen Auffassung in der Geschichtsphilosophie. Freilich muß die Kenntnis der historia in nuce sie ergänzen: das Thema, das in unendlicher Verschiedenheit von Zeit und Raum sich abwandelt, ist ein und dasselbe, und in diesem Sinne gibt es nicht nur Geschichte der Kulturen, sondern Menschheitsgeschichte, welche eben Geschichte in der Substanz, im Nußkern, Geschichte des Menschen ist. Sie wiederholt sich in jedem Lebenslauf.“
„Die Furcht nimmt immer die Maske, den Stil der Zeiten an. Das Dunkel der Weltraumhöhle, die Visionen der Eremiten, die Ausgeburten der Bosch und Cranach, die Hexen- und Dämonenschwärme des Mittelalters sind Glieder der ewigen Kette der Angst, an die der Mensch wie Prometheus an den Kaukasus geschmiedet ist. Von welchen Götterhimmeln er sich auch befreien möge — die Furcht begleitet ihn mit großer List. Und immer erscheint sie ihm in höchster, lähmender Wirklichkeit. Wenn er in strenge Erkenntniswelten eintritt, wird er den Geist verlachen, der sich mit gotischen Schemen und Höllenbildern ängstigte. Er ahnt kaum, daß er in den gleichen Fesseln gefangen liegt. Ihn freilich prüfen die Phantome im Erkenntnisstil, als Fakten der Wissenschaft. Der alte Wald mag nun zum Forst geworden sein, zur ökonomischen Kultur. Doch immer noch ist in ihm das verirrte Kind. Nun ist die Welt der Schauplatz von Mikrobenheeren; die Apokalypse droht wie je zuvor, wenngleich durch Machenschaften der Physik (nicht nur der Physik! HB). Der alte Wahn blüht in Psychosen, Neurosen fort. Und auch den Menschenfresser wird man in durchsichtiger Verkleidung wiederfinden — nicht nur als Ausbeuter und Treiber in den Knochenmühlen der Zeit. Er mag vielmehr als Serologe inmitten seiner Instrumente und Retorten darüber sinnen, wie man die menschliche Milz, das menschliche Brustbein zum Ausgangsstoff für wunderbare Medizinen nimmt. Da sind wir mitten im alten Dahomey, im alten Mexiko.“