Chevrefoil‹ , der „Lai vom Geißblatt“, erscheint in der Handschrift Harley 978 als elfte Verserzählung, die der frühesten französischsprachigen Dichterin, Marie de France, zugeschrieben wird. Sie soll dieses Harfenlied vor 1189 am englischen Königshof in einem altfranzösischen Dialekt, dem Anglonormannischen, geschaffen haben. Dieser narrative Lai ist mit seinen 118 achtsilbigen Versen in Reimpaaren die kürzeste der zwölf Versnovellen Maries. In ›Chevrefoil‹ setzt Marie eine ›aventure‹ aus dem irisch-bretonischen Tristan-Stoff in Szene, aus dem Sagengut der Matière de Bretagne. Dieses „gioiello di poesia“ des Hochmittelalters besticht durch seine starke Ausdruckskraft, insbesondere mit der Wahl einer floralen Metapher, die für unauflösliche, lebenslange Liebe steht: sich windende Geißblatt-Zweige umschlingen einen Haselnuss-Stock. Denn, und dies kündet mittelalterlicher Volksglaube: trennt man Hasel-Strauch und Geißblattzweige voneinander, die in perfekter Symbiose leben, so müssen beide sterben. Unter Einfluss der bis an den französischsprachigen englischen Hof ausstrahlenden trobadoresken Ideologie der ›fin’amor‹ überträgt Marie de France mit ihrer dichterischer Einbildungskraft diese florale Metapher auf die schicksalhaft-verhängnisvolle Bindung des mythischen Liebespaares Tristan und Isolde: